Sonntag, 18. September 2011
Mein Frieden. Und das Knie.
Genau an diesem Wochenende vor vier Jahren kam ich zum ersten Mal hierher. In diese Stadt. Es war ein bisschen später als jetzt, so 18, 19 Uhr.

Ich weiß noch, dass ich verwundert war, dass auf den Straßen kein Auto fuhr, die Bushaltestellen nicht angefahren wurden und kein Taxi weit und breit zu sehen war.

Ich habe kurz innerlich geflucht. Ich habe erst kürzlich mein Knie demoliert, jetzt war es glühend heiss und dick. Aber ich konnte nicht zum Arzt gehen damit, wollte nicht. Immerhin musste ich hier hin in diese Stadt. Meinen neuen Job antreten, vielmehr die Einarbeitung hier vor Ort.

Also biss ich auf die Zähne, nahm meinen Rucksack und machte mich zu Fuß auf den Weg. Ich erinnerte mich, dass das Hotel nicht weit weg sein musste.



Es war mein erster Abend in der Stadt. Ich hatte Hunger und wollte noch eine Kleinigkeit essen. Ich stiefelte mit meinem schmerzenden Knie durch die Gassen. Der Umbro-Markt sei gewesen, vielleicht habe ich an einem der Stände noch Glück, sagte die Dame an der Rezeption zu mir. "Sonst müssen Sie halt schauen, ob Sie was im Restaurant bekommen."

Umbro-Markt. Nie gehört. Sagte sie so in einer Selbstverständlichkeit, als müsse ich da was mit anfangen können. Und für mich gab's nur die bevorstehende Einarbeitung. Ich war hier wegen des neuen Jobs. Einem neuen Lebensabschnitt. Einem neuen Abenteuer.

Ich ging durch die Gassen und ergatterte irgendwas zu essen.
Danach legte ich mich mit meinem schmerzenden Knie ins Bett und hoffte, dass es morgen etwas weniger schlimm wäre. Morgen bei der Einarbeitung.





Ein Jahr später, an jenem Wochenende, begann das, was als die Geschichte mit dem 461km-Entfernten seinen Lauf nahm.

Ich weiß noch, dass ich im Bad war, in der Wanne lag und mein Handy im Schlafzimmer piepend eine SMS meldete. Noch bevor mich der Gedanke, ob er es wohl ist, vollständig durchzuckt hatte, schaltete sich aus der Vogelperspektive schon meine Vernunft ein, holte mich auf den Boden der Tatsachen zurück und sagte mir, dass das sehr unwahrscheinlich sei. Heute sei doch das Stadtlaufwochenende und der Umbro-Markt. Wahrscheinlich ist es eine Freundin. Oder meine Eltern melden sich. Dachte ich.

Als ich mein Bad zuende genossen hatte und auf mein Handy sah, sah ich, dass die SMS von ihm war.





Ein weiteres Jahr später an jenem Wochenende war ich wieder in der Stadt. Eigens für den Stadtlauf angereist und natürlich auch um ihn zu sehen. Seine Eltern habe ich damals kennengelernt. Und versteckt haben wir uns, vor den anderen. Den Arbeitskollegen.

Bei dem Lauf ist mir eine verwirrte Zuschauerin in den Weg gekommen. Sie wollte nur schnell die Seite wechseln. Während ich versucht habe, ihr auszuweichen, bin ich auf dem Kopfsteinpflaster, dass mich diese Stadt im Namen meiner Schuhe regelmäßig verfluchen lässt, ganz fürchterlich verkehrt aufgetreten. Ein beißender Schmerz kroch bis in mein Knie. Es hat angefühlt wie damals, vor zwei Jahren. Im Tunnel denke ich daran aus dem Rennen auszusteigen. Aber dann beisse ich auf die Zähne und bringe den Lauf zuende. Denke an damals, vor zwei Jahren, als ich auch noch etwas zu essen bekommen habe.





An diesem Wochenende vor genau einem Jahr bin ich hierher gezogen. Während die anderen gelaufen sind, habe ich die ersten Kisten ausgepackt. Mein Knie hielt sich zurück und kommentierte die vorangegangenen Wochen des Schleppens und Arbeitens nur mit einem dezenten Pochen. Am Nachmittag bin ich mit dem Bus in die Stadt gefahren. Jedenfalls so weit er fuhr. Denn ein großer Teil der Stadt ist ja gesperrt am Wochenende mit dem Umbro-Markt und die Straßen gehören den Läuferinnen und Läufern beim Stadtlauf.

Ich weiß noch, wie ich dachte, dass es drei Jahre lang immer schönes Wetter gab, an diesem Stadtlaufwochenende. Und was für ein Zufall es doch ist, dass sich das alles so ergeben hat. Immer an diesem einen Wochenende im Jahr.





Heute hat es geregnet.

Und während ich noch einmal die Wege gegangen bin, wie damals vor vier Jahren, als ich das erste Mal hier ankam, mit schmerzendem Knie und Hunger nach der langen Fahrt, habe ich mich nicht gewundert, über den Regen.

Als ich heute durch den Tunnel gegangen bin, schmerzte mein Knie nicht. Aber mein Herz ist gebrochen.

Mit jedem Schritt, den ich heute gemacht habe, habe ich Abschied genommen. Und ich habe meinen Frieden geschlossen mit dem, was in den letzten vier Jahren geschehen ist. Hier mit mir, in dieser und um diese Stadt.

Ich weiß nicht, wo ich in einem Jahr an diesem besagten Wochenende sein werde. Aber schon heute weiß ich, dass ich ein neues Kapitel aufgeschlagen habe. Heute, an dem besagten Stadtlaufwochende, an dem vor vier Jahren so viel seinen Lauf genommen hat.